Der Erhalt der Versorgungssicherheit bedarf großen gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Die Bundesregierung hat völlig zurecht die Frühwarnstufe 1 der Notfallverordnung Gas aktiviert. Zwar wird das Wetter wärmer, der Frühling ist sichtbar, und da erscheint die hohe Abhängigkeit vom Erdgas vielleicht auf den ersten Blick nicht so gefährlich. Schließlich verwenden wir fast die Hälfte des Erdgases für Heizen und Warmwasser – und Wärme liefert im Sommer doch auch die Sonne. Aber wir sollten uns nicht täuschen lassen, der nächste Winter kommt bestimmt. Dann kann Gas sehr knapp sein. Bis vor kurzem kamen 55 Prozent unseres Erdgases aus Russland. Mit Anstrengung können wir kurzfristig diese Abhängigkeit um 20 Prozentpunkte dank neuer Verträge mit anderen Exportländern reduzieren. Bleibt eine Lücke von 35 Prozent, welche dem kompletten Verbrauch der deutschen Industrie entspricht. Diese stellt damit zum Beispiel Düngemittel her, die unserer Ernährungssicherheit dienen, oder Materialien für genau die Windräder, die wir brauchen, um unabhängig von Putin zu werden. Umfassende Produktionseinstellungen können Kaskadeneffekte in der gesamten Volkswirtschaft auslösen – welche Auswirkungen selbst kleinere Unterbrechungen in Lieferketten haben können, wissen wir spätestens seit Corona Pandemie.
Jetzt haben wir noch Zeit zu handeln. Die Versorgungslage ist über den Sommer auch ohne russisches Gas gewährleistet – ein Auffüllen der Gasspeicher nicht. Wenn wir jetzt nicht sparen, umstellen, Erneuerbare bauen, Heizungen effizienter einstellen und Wohnungen dämmen, dann haben wir im Herbst sehr schlechte Karten. Jede Megawattstunde, die wir jetzt einsparen, bleibt für den kommenden Winter im Speicher. Jeder Kubikmeter, den wir jetzt nicht verbrennen, steht uns dann zur Verfügung, wenn die Not groß sein kann. Wir haben kein Speicherproblem, wir haben ein Mengenproblem. Deshalb hilft es auch, sparsam mit der Ressource Erdöl umzugehen. Denn einige Prozesse in der Industrie und Wärmeversorgung lassen sich vorübergehend auf Öl umstellen.
Wir können das schaffen. Wir sind ein sehr starkes Land. Nun müssen wir gemeinsam anpacken und uns der Herausforderung stellen. Das bedeutet genau wie bei Corona, dass wir Dinge tun, die wir uns bis vor kurzem nicht hätten träumen lassen. Unsere Gesellschaft hat damals die Bürde angenommen und getragen und mit erheblichen Einschränkungen die ersten Corona-Wellen gebrochen, als es noch keine Impfstoffe und Medikamente gab.
Wir haben natürlich alle inständig gehofft, die Krisenzeiten erstmal hinter uns zu haben, aber auch für unsere Energiesicherheit und den Frieden müssen wir jetzt bereit sein, entschlossen zu handeln. Für die Diversifizierung der Bezugsquellen ist schon viel erreicht worden. Wir müssen aber auch insgesamt unabhängiger werden von fossilen Energieträgern und dafür sehr kurzfristig große Fortschritte erzielen.
Die Bundes- und Landesregierungen sollten beschleunigte Genehmigung von relevanter Infrastruktur wie erneuerbare Energien, Stromleitungen, Wärmeleitungen ermöglichen. Zudem können sie eine staatliche Ausfallrisikoabsicherung für die frühzeitige Bestellung von Anlagen der erneuerbaren Energien oder Stromleitungen bei Genehmigungsrisiken gewährleisten und so den Ausbau einer nachhaltigen Energieinfrastruktur vorantreiben.
Der größte Hebel, um kurzfristig große Gasmengen einzusparen, liegt in der Wärmeversorgung. Hier kann der Staat öffentliche Unterstützung bei der Finanzierung besonders wichtiger Projekte wie zum Beispiel der Sanierung der am schlechtesten gedämmten Gebäude oder saisonalen Wärmespeichern zur Verfügung stellen sowie ein Sprinter-Programm für die serielle Sanierung auflegen. Zusätzlich müssten der Einsatz von knappen Fachkräften auf die wichtigsten Projekte zum Beispiel der Gebäudedämmung und Heizungsoptimierung fokussiert werden.
Neben Förderung der Energieeffizienz ist es wichtig, den Gasverbrauch zu senken. Deshalb könnten wir es die Senkung der Mindesttemperatur in Büroraumen gesetzlich vorschreiben und in Wohnräumen ermöglichen. Außerdem bedarf es digitaler Thermostate in öffentlichen Gebäuden, und auch für privat genutzte Gebäude könnten wir diese aus öffentlicher Beschaffung zur Verfügung stellen. Begleitet werden müssten diese Programme mit einer breit angelegten Informationskampagne zum energiesparenden Heizen und Lüften. So geben wir den Bürgerinnen und Bürger die notwendigen Informationen zum energiesparenden Heizen an die Hand.
Anstrengungen sind auch im Verkehrsbereich geboten und werden bereits eifrig diskutiert. Wir sollten ernsthaft über ein befristetes Tempo 100 auf Autobahnen reden und Sonntagsfahrverbote prüfen, zumindest solange bis die Importabhängigkeit von Öl aus Russland beendet und auch sichergestellt ist, dass Produktionsprozesse, die kurz- bis mittelfristig von Gas auf Öl umgestellt werden können, mengenmäßig versorgt werden können.
Wir alle sollten jetzt einen Beitrag leisten, Gewohnheiten ändern und vorübergehend Härten in Kauf nehmen. Das eigene Verhalten anzupassen ist jetzt nicht nur ein netter Beitrag, es ist notwendige Voraussetzung, um unsere Gesellschaft so zu erhalten, wie wir sie kennen. Solidarisch für diejenigen das Auto stehen lassen, die nicht weniger Auto fahren können ohne ihre Arbeit aufzugeben. So bleibt mehr von dem knappen Öl für diejenigen, die wirklich darauf angewiesen sind.
Sobald wir mit den technischen Maßnahmen für Erneuerbare Energien und Effizienz weiter sind, können wir uns wieder mehr Luxus wie energieintensive Freizeitaktivitäten leisten. Daran lässt sich ein weiterer Aspekt der notwendigen Maßnahmen ablesen: Ändern müssen ihre Gewohnheiten vor allem die Menschen in unserer Gesellschaft mit höherem Einkommen. Die mit wirklich wenig Geld in der Tasche konnten es sich auch bisher nicht leisten, viel russisches Erdgas zu kaufen und waren zwangsweise meist bemüht, trotz oftmals schlecht isolierten Wohnungen so wenig wie möglich zu heizen. Energiemangel trifft die Ärmsten am härtesten. Verbraucht wird der Großteil der Energie aber von Menschen mit höherem Einkommen. Und hier ist der Handlungsbedarf. Sorgen wir zusammen dafür, dass wir Industrienation und ein Land mit hohem Wohlstand bleiben.
Der gemeinsame Gastbeitrag von Ingrid Nestle und Dieter Janecek ist am 25. April 2022 im Handelsblatt erschienen.